Jede Sekunde zählt - Retter waren schnell zur Stelle
Die Rettungskräfte im Raum Eichstätt demonstrieren bei einer Großübung im Stammhamer ICE-Tunnel eindrucksvoll ihr Können. Die Bilanz fällt überaus positiv aus, nur hier und da besteht Nachbesserungsbedarf.
Mit einer Notbremsung kommt in der Nacht zum Sonntag ein ICE auf der Strecke zwischen Nürnberg und Ingolstadt im Stammhamer Tunnel (Kreis Eichstätt) abrupt zum Stehen. Ein technischer Defekt ist die Ursache. Viele der rund 50 Reisenden in dem Hochgeschwindigkeitszug wirbeln durcheinander, etwa die Hälfte trägt zum Teil schwere Verletzungen davon. Großeinsatz für Feuerwehren, Polizei und Rettungsdienste, knapp 300 Kräfte sind im Einsatz – zum Glück ist es nur eine Übung, wie sie die Deutsche Bahn alle drei Jahre regelmäßig veranstaltet.
Die Uhr zeigt exakt 1.26 Uhr, als die Alarmierung der Feuerwehren aus Hepberg, Lenting und Stammham erfolgt. Die Integrierte Leitstelle in Ingolstadt fordert auch gleich noch die Wehren aus Appertshofen, Eichstätt, Eitensheim, Gaimersheim und Kösching als Verstärkung an. Der Rot-Kreuz-Kreisverband Eichstätt und das THW aus Ingolstadt und Eichstätt sind ebenfalls zur Stelle. Die Zugspitze des rund 200 Meter langen ICEs stehe bei Kilometer 76,7, heißt es in einem ersten Lagebericht. Ein Blick auf die Pläne zeigt: Das ist gut für die Helfer, er steht ziemlich genau mittig zum Notausstieg bei Stammham, auch als „NA1“ bekannt. So können die Retter schnell zu den Verletzten vordringen. Vom Nord- und Südportal des 1320 Meter langen Tunnels rücken ebenfalls Kräfte an.
Wirklichkeitsnahes Szenario
Nur neun Minuten nach dem ersten Alarm trifft das erste Feuerwehrfahrzeug am Nordportal bei Stammham ein, wenig später melden sich die Kollegen von der Südseite. Klar, solche Großübungen bleiben nicht geheim, einige ehrenamtliche Helfer standen bereits in den Startlöchern. „Aber das macht nichts. Wichtig ist nur, dass sie die Lage nicht kennen und sich nicht darauf vorbereiten“, sagte der Eichstätter Kreisbrandrat Martin Lackner.
Zurück zum Schauplatz: Ist die Strecke frei? Führen die Oberleitungen noch Strom? Sicherheit steht für die Retter an erster Stelle. Erst wenn alle relevanten Fragen geklärt sind, machen sie sich auf den Weg in den Tunnel. Die Hepberger Wehr kommt derweil von der Mitte her über den Notausstieg unweit des Stammhamer Bauhofs. Das erste Hindernis wartet schon bei der Anfahrt, die Schranke vor dem Gebäude mit dem Abgang lässt sich nicht öffnen. Die Männer zerlegen sie kurzerhand. Jede Sekunde zählt.
Metallene Plattformen mit Rädern helfen den Rettern, technisches Material an die „Unglücksstelle“ zu transportieren. Sie hängen überall an den Tunnelwänden und müssen nur noch aufs Gleis gehievt werden. Mit Muskelkraft bringen die Männer die Gefährte in Bewegung, später werden sie damit im Laufschritt die Verletzten aus dem Zug zu den Portalen schieben. Da fließt der Schweiß. Aber soweit ist es noch lange nicht. Der erste Trupp trifft von Norden her am Zug ein, doch die Türen sind verschlossen. Drinnen klopfen die Reisenden verzweifelt an die Fenster, panisches Geschrei ist zu hören. Die Übung wird von einer Sekunde zur nächsten zur Realität, so echt klingen die Hilferufe. Endlich öffnet ein Bahnbediensteter eine Tür. „Wir haben zwei Reanimationen, im ersten und letzten Wagen. Außerdem eine schwangere Frau, bei der die Wehen eingesetzt haben“, sagt der Mann hastig.
er Funk erfahren die Retter draußen von der Lage. Ein Erkundungstrupp von Feuerwehr und Rotem Kreuz steigt in den Zug. „Wo bleibt der Notarzt?“, schreit ein Verletzter. Ein anderer liegt regungslos am Boden, wie tot. Die Retter müssen sich orientieren, doch das gestaltet sich schwierig. Immer wieder unterbrechen Reisende sie, schreien und jammern. Ein durchdringender Pfeifton weist auf die offenen Türen hin und geht durch Mark und Bein. Abstellen lässt er sich nicht. „Das macht mich fertig, mein Kopf, mein Kopf“, schreit einer der Verletzten ein ums andere Mal. Die Statisten spielen ihre Rollen so echt, dass mancher Retter erst einmal überfordert scheint. „Eine solche Chaosphase ist am Anfang aber ganz normal“, sagt Kreisbrandrat Lackner.
Dann siegt die Routine, wie die Kräfte sie vielfach geübt haben. Sie spulen ihr Programm ab, das sie aus dem „Gebetbuch“ kennen. So nennen sie die Einsatzpläne. Wer ist schwerer verletzt, wer hat die Notbremsung mit dem Schrecken überstanden? Diese Sondierung ist bei solchen Unfällen wichtig, um diejenigen zu finden, bei denen es möglicherweise um Leben und Tod geht. „Wir können aus solchen Großübungen ganz viel lernen“, sagt Bernhard Sammiller, der Örtliche Einsatzleiter oder kurz ÖEL genannt. Im richtigen Leben ist er Bürgermeister von Pförring. „Im Ernstfall würde es nämlich ziemlich gleich ablaufen, auch wenn manchmal das Gegenteil behauptet wird.“ Der Kreisbrandrat stimmt ihm da zu. „Fehler dürfen aber passieren“, sagt Lackner. Lieber bei einer Übung als während eines Ernstfalls.
Der gestrige Einsatz zeigt eindrucksvoll, wie schwer es ist, Menschen mit der Trage in der Enge eines Zugwaggons zu retten. Eine am Boden liegende Frau simuliert eine Wirbelsäulenverletzung und muss besonders behutsam ins Freie geschafft werden. Zwei Rollstuhlfahrer fordern ebenfalls Beachtung ein – der eine hat sich am Fuß verletzt und lamentiert bei der geringsten Bewegung. Mit jeder Minute agieren die Einsatzkräfte indes routinierter, sie haben die Lage im Griff. Es dauert gut zwei Stunden, bis die Retter alle „Verletzten“ erstversorgt und aus dem Zug geschafft haben. Um 3.18 Uhr ist alles vorbei. Genug Zeit für die Bahn, die Strecke freizubekommen; ab 5 Uhr ist wieder mit Linienverkehr zu rechnen.
Die Bilanz der Übung fällt positiv aus. Der Einsatz zeigt aber, dass hier und da Korrekturbedarf besteht. „Unser Konzept stimmt im Großen und Ganzen, aber wir müssen Details korrigieren“, sagte Markus Bogenberger, Kreisbereitschaftsleiter beim Roten Kreuz im Raum Eichstätt. Es fehle ein Koordinator, der den Erstzugriff organisiert. Ansonsten funktioniere alles. Andreas Hanke von der Deutschen Bahn (DB) zeigte sich beeindruckt. „Gut gelaufen!“, fand er, will aber ebenfalls an Kleinigkeit feilen – etwa daran, dass die Einsatzleitung mit dem DB-Notfallmanager in Lenting und nicht am Unglücksort stationiert war. „Das war nicht optimal, alles andere schon.“
„Super, spitze“, lobte Eichstätts Landrat Anton Knapp, selbst bei der Gaimersheimer Feuerwehr aktiv und Beobachter des Geschehens. „Es ist unglaublich, was unsere Ehrenamtlichen hier alles leisten“, sagte Stammhams Bürgermeister Hans Meier. „Gut, dass es nur Übung war. Hoffentlich tritt bei uns ein solcher Katastrophenfall nie ein. Es reicht schon, was auf der A 9 tagtäglich los ist.“
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